Ein Stück deutscher Musikgeschichte
Die Jazz-Rockband „Kraan“ wurde vor mehr als 50 Jahren gegründet. Am Samstag waren sie in Lantershofen.
„Endlich wieder ohne Maskenzwang und Abstandspflicht, auch wenn viele noch ein bisschen Paranoia haben, sich in die Nähe anderer Menschen zu begeben“, war das erste, was Star-Bassist Helmut Hattler dem Publikum im Lantershofener Winzerverein zu sagen hatte. Hattler war dort am Samstag mit seinen wohl wichtigsten Bandprojekt „Kraan“ zu Gast, deren Gründungsjahr mit 1971 angegeben wird. Mehr als 50 Jahren ziehen die Jazz-Rocker, die ihre Titel gerne mit orientalischen und asiatischen Klängen untermalen, also schon über die Bühnen. Und das immer gleicher Grundbesetzung. Sie sind als Begründer des Jazz-Rock längst zu einem Stück deutscher Musikgeschichte geworden und begeisterten auch im fortgeschrittenen Alter noch ihr Publikum. Hattler feiert in diesen Tagen seinen 70. Geburtstag. Vor der Bühne in Lantershofen tummelten sich derweil viele Mitglieder der heimischen Musikszene, aber auch Kraan-Fans, die teilweise weite Anfahrtswege in Kauf genommen hatten.
Sie alle waren von der rund zweistündigen Präsentation begeistert, für die sich das Trio mit Hattler am Bass, Peter Wolbrandt an der Gitarre und Jan Fride Wolbrandt am Schlagzeug Keyboard-Unterstützung geholt hatte. Auf die Ohren gab es in erster Linie Musik aus dem fünften Live-Album von Kraan „The Trio Years.“ Stücke, wie „Andy Nogger“, „Nachtfahrt“ oder „Pick Peat“ führten die Fans immer wieder quer durch fünf Jahrzehnte Kraan-Klassiker, die für „The Trio Years“ neu für den Liveauftritt definiert wurden. Peter Wolbrandt und Helmut Hattler ließen in erster Linie ihre Gitarren sprechen und singen, tatsächlicher Gesang blieb Nebensache, war auch nicht wirklich das, was die knapp 150 Fans im Winzerverein hören wollten. Der Kraan-Sound stand eindeutig im Vordergrund, da kamen alte Emotionen hoch, die sich mit jedem Titel verstärkten, ehe Kraan nach gut eineinhalb Stunden mit „Borgward“ das letzte und eines seiner bekanntesten Stücke ankündigte, das wie die meisten Songs die Dauer von zehn Minuten mühelos überschritt. Als Zugabe wurde es dann noch ein wenig länger, Kraan wanderten zurück ins Jahr 1974, um mit dem 15-minütigen Klassiker „Nam Nam“ einen tollen Abend zu beenden.
Veranstaltungsankündigung
Kraan gab’s schon mal als Trio. Allerdings bevor Kraan überhaupt Kraan hieß. Jan Fride Wolbrandt war Hellmut Hattlers Nebensitzer in der Schule und betrieb mit seinem Bruder Peter Wolbrandt im zarten Alter von zwölf Jahren bereits eine erfolgreiche Beatband. Hattler, der große Blonde, der später Bass-Geschichte schreiben sollte, war damals noch in einen rigiden, streng behüteten Haushalt eingebunden. Der plötzliche Tod seiner Eltern ließ Haltegriffe fehlen, schuf aber nach einer Weile Raum zum Komplettieren der Urzelle jener Band, die seit 1970 allen Konventionen trotzt. Im ehemaligen Büro des Hattler’schen Elternhauses wurde gejammt, ausprobiert. Und nebenbei formulierten die drei Individualisten den Ausbruch aus den vorgezeichneten bürgerlichen Lebensläufen. 1970 stieß Johannes „Alto“ Pappert zum Trio und bereits ein Jahr später definierten sich die vier Probierenden als Profis. Mit ureigener Identität, die sich auch im Bandnamen manifestiert.
Kraan heißt Kraan, weil der Band-Name „vorne hart anfängt und hinten weich aufhört“. Ersetzt man „hart“ durch „metrisch-druckvoll“ und addiert das Weiche, das Melodische, das Sinnliche, hat man den kollektiven musikalischen Fingerabdruck der Band ganz gut begriffen. Was niemand je entschlüsseln wird, ist die psychologische DNA von Kraan. Weder die zwischenzeitlich unter dem Banner Kraan agierenden Musiker Ingo Bischof, Udo Dahmen, Gerry Brown, Joo Kraus, Eef Albers und Marc McMillen noch die seit 2008 wieder als Trio agierende Dreifaltigkeit Hattler-Wolbrandt-Fride, können die Seele von Kraan adäquat erklären. Zum Glück, denn nichts ist desillusionierender als das Entmystifizieren der Chemie, die seit den Jam-Sessions im Büro stimmte – auch, wenn sie vordergründig betrachtet nie richtig stimmte. Nur ausgewiesene Kraan-Chronisten vermögen die ewigen Auflösungen aufzuzählen, die notwendig schienen, damit es danach mit wiedererstarkter Intensität weitergehen konnte.
Als Amerika in Form von Seymour Stein Interesse an der herrlich widersprüchlichen Musik von Kraan bekundete, und ein paar der sagenumwobenen, von Conny Plank produzierten Platten aus den 70er-Jahren auf dessen Passport-Label erschienen waren, rückte das „Big Time“-Business in greifbare Nähe. Aber plötzlich wollte der Drummer lieber Richtung Afghanistan abhauen, statt in dem Land zu spielen, das den Vietnam-Krieg wider besseren Wissens geführt hatte. Seymour Stein gründete damals gerade Sire Records und hätte die Band vom Gut Wintrup gerne mitgenommen, um sie zu späteren Label-Mates der Talking Heads und Madonna zu machen. Aber es sollte, wie so vieles, nicht sein. Amerika wäre gut fürs Konto und noch besser fürs teils nicht vorhandene Ego gewesen. Hätte, könnte, würde – es ging danach mit dem Album „Wiederhören“ auf derart brillantem musikalischen Niveau weiter, dass die „Scheiß egal“- Haltung der Hälfte der Band eine vorläufige Bestätigung fand. Übrigens im Jahr der Schleyer-Entführung, was eindrücklich unterstrich, dass die vormaligen Kommunarden jeglicher Politisierung mit Feinmotorik und Bauchgefühl widerstanden. Eine Tatsache, die bis heute genauso Bestand hat, wie die Unmöglichkeit des musikalischen Zuordnens von Kraan. Krautrock? Lächerlich! Kraut-Funk? Schon eher, aber immer noch viel zu beengend. Jazz-Rock? Vielleicht ein bisschen, wenngleich das „kraansche“ Augenmerk aufs Ensemblespiel den darin enthaltenen charakteristischen, solistischen Hickhack immer mit Argwohn betrachten ließ.
Das neue, insgesamt fünfte Kraan-Live-Album „The Trio Years“, wurde zwischen 2008 und 2017 aufgezeichnet. „Sicherer mit, aber schöner ohne“, lautete die Parallelenziehung des Lichttechnikers zwischen Keyboardern und Kondomen, nachdem es der Kraan-Tastenmann vorgezogen hatte, im Bett liegen zu bleiben, statt zu einem vereinbarten Festival-Gig aufzutauchen. Kraan war plötzlich wieder ein Trio, in der Besetzung der Urzelle. Zunächst unfreiwillig, aber umgehend mit der erneut gesteigerten Intensität. Aufgenommen von Thierry Miguet, stammen die neuen Live-Definitionen von Kraan-Klassikern aus unterschiedlichen Konzerten unterschiedlicher Jahre. „Ich hatte mir zig DVD’s angehört, auf die Thierry seine Mitschnitte gezogen hatte“, erinnert sich Hellmut Hattler. „Und eigentlich war ich dabei an den Punkt gekommen, dass ich 80 Prozent der meisten Stücke super fand, zu denen sich aber immer 20 Prozent Entgleisungen gesellten – typisch Kraan! Mir fehlte die Vorstellung, das Material zu einer runden Sache editieren zu können und ich hakte das Live-Projekt zunächst frustriert ab.“ Die buchstäbliche Rettung der Live-Platten-Idee übernahm schließlich der befreundete Drummer, Label- und Studio-Betreiber Jürgen Schlachter, der in minuziöser Feinarbeit jeweils Spuren verschiedener Konzerte zusammen editierte. „Während ich im Krankenhaus lag und um mein Leben kämpfte, gab Jürgen richtig Gas und schickte mir quasi täglich neue Versionen unterschiedlicher Stücke, die in der Zeit für mich wie ein Anker waren. Darunter befanden sich auch Stücke wie ‚Silver Buildings’, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass wir sie überhaupt live gespielt hatten“, sagt Hellmut Hattler. „Ich war komplett gerührt davon, weil sie in den vorliegenden Live-Versionen so vital klingen. Selbst die Gesänge funktionieren, was bei Kraan schon was heißen will“, spöttelt der Ulmer selbstironisch.
Für den geneigten Kraan-Fan gibt es auf „The Trio Years“ Unmengen Frisches zu entdecken. Die enthaltene 18-Minuten-Version von „Nam Nam“ straft mit der Selbstverständlichkeit der Dauererneuerung alle Anachronismus-Vermutungen lüge. „The Schuh“ aus der jüngeren Kraan-Historie lässt über die einnehmenden Möglichkeiten der Orchestrierungen in der Trio-Besetzung staunen. Im unschlagbaren Klassiker „Let It Out“ findet Peter Wolbrandt ausreichend Raum für seine Gitarren-Exkursionen, die immer ein bisschen klingen, als ob sie von einem anderen Stern stammen. Das „Wintruper Echo“ unterstreicht, wie locker Hellmut Hattler die Balance zwischen Melodie und Groove verfeinert aus den Ärmeln schüttelt. „Hallo Ja Ja, I Don’t Know“ ist ein Paradestück für Jan Fride Wolbrandts feinmotorisches, metrisches Gespür. Für den Kraan-Neuentdecker summiert „The Trio Years“ derweil, wofür die Band seit knapp fünf Jahrzehnten wie ein Leuchtturm in der Brandung steht: Free-Form-Musik von Freigeistern, die einen unverkennbar zeitlosen Sound haben, weil sie immer auf ihr kollektives Bauchgefühl hörten. Im Zeitalter der Technokratie ist „The Trio Years“ nicht zuletzt deshalb unverzichtbar.